Marcellus (Magister militum)

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Wappen des „Marcello Tegalin“ nach Vorstellungen des frühen 17. Jahrhunderts. Die Heraldik setzte erst im 3. Viertel des 12. Jahrhunderts ein, später wurden rückblickend auch Wappen an die frühen Dogen vergeben, die nie ein solches Wappen geführt hatten („fanta-araldica“); dies diente dazu, die Familien dieser Epoche mit möglichst frühen Dogen in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu setzen, was ihnen Ansehen sowie politischen und gesellschaftlichen Einfluss verschaffte.[1]

Marcellus, früher meist Marcello Tegalliano, auch Marcello Tegalin genannt (* 2. Hälfte 7. Jahrhundert; † vielleicht 726 in Heracleia), war nach der staatlich gesteuerten Geschichtsschreibung der Republik Venedig von 717 bis 726 ihr zweiter Doge. Zeitweise galt er gar als Beschützer der Freiheit Venedigs gegen die Langobarden, ähnlich wie Numa Pompilius für Rom.

Seine Historizität ist seit einem Jahrhundert umstritten, nur die venezianische Geschichtsschreibung kannte ihn als Dogen, während er in den frühesten Quellen ab 840 nur als „Marcellus“ erscheint. In diesen Quellen wird er zudem nicht als Dux (Doge) – sieht man von einem an dieser Stelle gefälschten päpstlichen Brief ab –, sondern als „Magister militum“ geführt, als Heermeister, was ihn in die Nähe kaiserlicher Amtsbezeichnungen rückt. Inzwischen gilt er nur noch als Amtsträger in der byzantinischen Provinz Venedig. Infolgedessen wird nunmehr Orso Ipato als erster Doge geführt.

Der Name „Marcello Tegalliano“ ist ein Konstrukt der venezianischen Geschichtsschreibung. Der Namensteil „Tegalliano“ geht wohl auf die Chronisten Nicolò Trevisan und Andrea Dandolo zurück. Zur Stabilisierung derartiger Namen trug oftmals bei, dass sich bedeutende Familien auf den jeweiligen Dogen als Ahnherrn bezogen, in diesem Falle die Familien Fonicalli und Marcello. Auch in der Dichtung des 17. Jahrhunderts erschien er, etwa bei Lucretia Marinella (1571–1653) in ihrem 1635 bei Gherardo Imberti in Venedig erschienenen, dem Dogen Francesco Erizzo und der Republik Venedig gewidmeten und 1844 erneut aufgelegten L’Enrico ovvero Bisanzio acquistato, unter diesem Namen. Dabei wurde er als friedliebend und eloquent bezeichnet.[2]

Weniger auf der Linie dieser Staatsgeschichtsschreibung, die bis 1797 strenger Kontrolle unterlag, hielten sich die nicht-venezianischen Historiker. Die Benennung als „Marcello Tegalliano“ war dementsprechend 1767 für Marc-Antoine Laugier eine bloße Vereinbarung der venezianischen Historiker, der er die Bezeichnung als „Marcello di Eraclea“ bzw. „Marcel d’Eraclea“ vorzog[3] (häufig fälschlich mit dem modernen Eraclea gleichgesetzt).

Hintergrund und Quellen, Datierungen, Terminologie

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Über Marcellus gibt es, ähnlich wie bei seinem Vorgänger, so gut wie keine gesicherten Quellenangaben, die seine historische Existenz belegen könnten. Immerhin zwei Quellen nennen einen Magister militum namens Marcellus, von dem spätere Geschichtsschreiber behaupteten, er sei zum Dogen gewählt worden. Gewählt wurde er dieser legendenhaften Überlieferung zufolge nach dem Tod seines Vorgängers im Jahr 717. Doch auch andere, stark abweichende Datierungen werden genannt. Die beiden wichtigsten Chronisten, nämlich Johannes Diaconus, der seine Chronik um 1000 abfasste, also rund 300 Jahre später, als auch Andrea Dandolo, der noch einmal über 300 Jahre später schrieb, stimmen insofern überein, als sie Marcellus eine Herrschaftsdauer von 20 Jahren und 6 Monaten zuschreiben.

Als einzige, zeitlich vergleichsweise nahe Quellen, die den ersten Dogen Paulicius und den in der Tradition genannten „zweiten Dogen“ Marcellus explizit nennen, bleibt einerseits das Pactum Lotharii von 840, andererseits die besagte Chronik des Johannes Diaconus, die Istoria Veneticorum.

Das Pactum nennt in Abschnitt 26 neben dem (angeblich) ersten Dogen, der dort dux genannt wird, ausdrücklich einen magister militum namens Marcellus. Die beiden hatten demnach mit dem Langobardenkönig Liutprand (712–744), nach Heinrich Kretschmayr zwischen 713 und 716,[4] einen Vertrag abgeschlossen: „De finibus autem Civitatis novae statuimus, ut, sicut a tempore Liuthprandi regis terminatio facta est inter Paulitionem ducem et Marcellum magistrum militum, ita permanere debeat, secundum quod Aistulfus ad vos Civitatinos novos largitus est“. Das Dokument, das die Grenzziehung weit in die langobardische Zeit zurückführt, unterscheidet also sorgsam zwischen einem „dux“ und einem „magister militum“, zwischen „Paulitio“ und „Marcellus“. Dabei glaubte die venezianische Geschichtsschreibung, der Vertrag sei mit dem Langobardenkönig Liutprand (712–744) geschlossen worden, wo es doch in der „terminatio“ nur ‚zur Zeit des Königs Liutprand‘ heißt.

Auch Johannes Diaconus erwähnt die beiden Männer mit Bezug auf das besagte Pactum aus dem Jahr 840, doch den Marcellus wieder nur als magister militum. Er sah im ersten Jahr des Kaisers Lothar eine vertragliche Grenzregelung, die ihren Ausgangspunkt zwischen Venezianern und in der Nähe lebenden „subiectos“ des Kaiserreichs genommen hatte.[5] Diese Grenze, zunächst ausgehandelt zwischen Venezianern und kaiserlichen Untertanen („subiectos“), wurde über Jahrhunderte immer wieder von den Franken und den römisch-deutschen Herrschern anerkannt. Daher war es für die venezianische Staatsgeschichtsschreibung so wichtig, dass der Dux und sein Magister militum nicht (mehr) im oströmischen Auftrag handelten, sondern aus eigener Berechtigung einen solchen Vertrag abschlossen, durch den darüber hinaus die Grenze gegen das Königreich Italien Anerkennung fand.

Italien zur Zeit des Langobardenkönigs Agilulf († 615)

Besondere propagandistische Bedeutung hatte die Verlängerung der Unabhängigkeit der Republik möglichst weit zurück in die Vergangenheit. Dies konnte von Rechtsansprüchen der beiden Kaiserreiche befreien, und zugleich erweisen, dass die Adelsfamilien der Stadt schon seit jeher Venedig führten. Zugleich zeigte das Ende der anderen Ämter aus römischer und byzantinischer Zeit, dass die Volksversammlung in einer religiösen und militärischen Notsituation den Bruch mit den Traditionen rechtfertigte. Damit knüpften die ältesten Familien zugleich an vor-langobardische Traditionen an.

Die Frage, ob der angebliche zweite Doge überhaupt als solcher betrachtet werden konnte, da er ja diesen Titel nicht explizit trug, beschäftigte die fachliche Nachwelt in erheblichem Ausmaß. Dabei hängen die verschiedenen Ämter, die im oströmischen Reich eingerichtet wurden, nämlich diejenigen der Tribunen, der Duces und der Magistri militum, aufs engste miteinander zusammen, ebenso wie das des Exarchen und die Frage nach der Volksversammlung. In Ravenna nämlich richtete Ostrom, um die ab 568 in Oberitalien einwandernden Langobarden zu bekämpfen, ein eigenes Exarchat ein. Der Exarch verfügte über umfassende zivile und militärische Rechte, die ansonsten üblicherweise getrennt gehalten wurden. Die Kontrolle über die einzelnen, häufig isolierten Territorien Italiens erhielten duces oder magistri militum. Dux konnte dabei Ausdruck einer eher zivilen, von dem jeweiligen lokalen Adel abgeleiteten Funktion sein, während der magister militum eher einem militärischen Rang entsprach. Diesen magistri wurden gelegentlich Aufgaben eines dux zugewiesen.

Die ersten Dukate wurden bereits im 6. Jahrhundert eingerichtet, so dass auch Venedig ein solcher Fall gewesen sein könnte, was aus den Quellen allerdings nicht hervorgeht. Es könnte dementsprechend einen Zusammenhang zur Übertragung der Macht von den Tribunen auf die Duces bestehen, was in der späteren Historiographie auch immer wieder behauptet wurde. Da die Geschichtsschreibung der Republik Venedig eine frühe, autonome Volksversammlung eher negierte, ist auch die Entwicklung dieser Institution wenig erforscht. Wahlberechtigt waren nach spätrömisch-byzantinischen Regularien alle bewaffneten Männer, insbesondere der exercitus. Diese Männer bildeten gemeinsam den Kern der Volksversammlung, die als concio generalis oder arengo bezeichnet wurde, eine Versammlung, die wiederum die Dogen wählte. Allerdings taucht die Volksversammlung in einer solchen Funktion explizit erst ab 887 in den Quellen auf, auch wenn die venezianische Historiographie später behauptete, auch die frühesten Dogen seien fast alle von ihr gewählt worden.

Rezeption und Einbettung in die Historiographie

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Für Venedig war die Frage nach dem Ursprung ihres höchsten Staatsamtes und von dessen Kontinuität von erheblicher Bedeutung, sodass die führenden Gremien, die sowieso größten Wert auf strikte Kontrolle über die Geschichtsschreibung legten, der Frage nach der Bedeutung der ersten Dogen für die Staatsräson und Verfassung, für Souveränität und Grenzverlauf hohen Wert beilegten. Dabei fiel der angebliche zweite Doge in seiner Bedeutung gegenüber dem ersten allerdings weit zurück.

Bis gegen Ende der Republik Venedig

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Bereits in der Istoria Veneticorum heißt es im frühen 11. Jahrhundert lapidar: „Anno ab incarnatione Domini DCCXXVII, mortuo Paulitione duce apud civitatem novam, qui ducavit annis XX, mensibus VI, successit Marcellus dux“ (‚Im Jahr seit der Fleischwerdung des Herrn 727, nachdem Paulus Dux in Civita Nova gestorben war, der 20 Jahre und 6 Monate als Doge geherrscht hat, folgt der Doge Marcellus‘).[6]

Die Abfolge der ersten drei Dogen gehörte spätestens mit der Chronik des Dogen Andrea Dandolo (1343–1354), die zur Vorlage zahlreicher weiterer Chroniken wurde, zum Kanon der venezianischen Geschichtsschreibung. Andrea Dandolo berichtet, Paulucius, Marcellus und Ursus, die drei ersten Dogen, seien in Heracliana begraben worden.[7] Bei Andrea Dandolo heißt es, Marcellus habe sieben Jahre und drei Monate das Dogenamt ausgefüllt, jedoch nennt er mit 714 ein abweichendes Jahr.[8] Wiederum andere Zahlen zur Regierungsdauer weist das Chronicon Altinate auf, eine der ältesten erzählenden Quellen Venedigs, wo es heißt „Marcellus dux, ducavit annos VIIII, et dies XXI“, also 9 Jahre und 21 Tage.

Die hier überaus knappe Cronica di Venexia detta di Enrico Dandolo aus dem späten 14. Jahrhundert, die älteste volkssprachliche Chronik Venedigs, stellt die Vorgänge ebenso wie Andrea Dandolo auf einer in dieser Zeit längst geläufigen, weitgehend von den Dogen beherrschten Ebene dar. Das gilt auch für „Marcelo Tegalian“. Die individuellen Dogen bilden sogar das zeitliche Gerüst für die gesamte Chronik, wie es in Venedig üblich war.[9] Dieser „Marcelo Tegalian“ kam demnach im Jahr „CCCCCCCXIIII“, also im Jahr 714, zur ‚Dogenwürde‘, der „ducali dignitade“. Er war auch nach dieser Chronik ein ‚Liebhaber des Friedens‘ („amador de paxe“), wie er schon bei Dandolo ein „pacis amator“ war. Er wurde nach einer Herrschaft von 7 Jahren, 3 Monaten und 5 Tagen Dauer in derselben Stadt beigesetzt wie sein Vorgänger, „abiando ducado anni VII, mexi III, dì V“. Nur in der Herrschaftsdauer weicht diese Chronik also von Dandolos Angaben geringfügig ab, nämlich um fünf Tage.

Pietro Marcello meinte 1502 in seinem später ins Volgare unter dem Titel Vite de'prencipi di Vinegia übersetzten Werk, „Marcello Tegaliano Doge II.“ „fu creato Prencipe“ (‚wurde zum Dogen gemacht‘), und zwar „con tutte le voci“, also einstimmig. Dies sei im Jahr „DCCXVII“ geschehen, also im Jahr 717. Er sei ein Mann von „mirabil pietà“ (‚wunderbarer Frömmigkeit‘) gewesen, der sich aber auch am Krieg erfreut hätte, doch habe er keine Gelegenheit gefunden, während seiner neunjährigen Amtszeit einen Krieg zu führen.[10]

Nach der Chronik des Gian Giacomo Caroldo, die bis 1532 entstand, kamen ‚die Einwohner der Inselchen‘ in der Lagune, die „habitatori delle [dette] Venete isolette“, nach dem Tod des (angeblichen) Dogen Paulicius, des „Paoluccio Anafesto“, in Heraclea zusammen, und machten aus „Marcello“ den neuen Dogen („creorono Duce Marcello“).[11] Dieser sei ein „huomo assai utile alla Republica“, ein ‚der Republik sehr nützlicher Mann‘ gewesen. Zu dieser Zeit sei Antonio, ein Mann aus Padua, Patriarch von Grado gewesen. Dieser sei zunächst Mönch, dann Abt des Klosters „Santa Trinità di Brondolo di San Benedetto“ gewesen, und er habe die Kirche von Irrtümern und Häresien freigehalten.[12] Marcellus, und damit erschöpft sich das Wissen über ihn bereits, sei nach 9 Jahren und 21 Tagen der Herrschaft gestorben und in Heraclea beerdigt worden.

Francesco Sansovino († 1586) widmete dem Dogen nur zwei Hinweise, nämlich einen auf seinen Geburtsort und einen auf die Streitigkeiten zwischen den Patriarchen von Aquileia und Grado, die er äußerst knapp skizziert.[13]

Heinrich Kellner vermittelt einen etwas anderen Eindruck von Marcellus. Er schreibt in seiner Chronica das ist Warhaffte eigentliche vnd kurtze Beschreibung, aller Hertzogen zu Venedig Leben von 1574: „Dieser [Marcellus Tegalianus]/ wie man findet / ist ein sehr gottfürchtiger Mann / unnd eines hohen Verstandes gewesen / hat auch Lust gehabt zu kriegen. Aber doch dieweil er kein Ursach gehabt hat / ein Krieg anzufahen / und also sein gantze Regierung friedlich hinbracht / ist er gestorben / da er neun jar im Herzogthumb gewesen war.“ Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf „den Sabellicum“, also Marcantonio Sabellico.[14]

Alessandro Maria Vianolis Historia Veneta von 1680 (Bd. 1), die sechs Jahre später auf Deutsch erschien,[15] versucht den Lesern zu verdeutlichen, dass es seine „guten Verrichtungen, welche die Grentz-Scheidung/ so die Venetianer mit Luitprando , der Lombarder König/gehabt/betroffen/ihm die Zuneigung und Wohlgewogenheit der gantzen Burgerschafft erworben“ habe. Der „Burger von Eraclea“, der das Amt angetreten habe, habe einen „hohen Verstand“ und eine „Weisheit / gleich wie zu des Königs Salomonis Zeiten“ besessen. So kamen nicht nur die Jesolaner, sondern auch „viel ausländisch-streitende Parteyen Hauffen-weis mit Geschenck und Gaben zu ihm gelauffen“. Sie hofften auf „kluge Rathgebungen“, um „ihren Zwiespalt beyzulegen“. Darüber hinaus habe er „viel herzliche Gesetze und Statuten / welches die stärckeste Mauern und allerbeste Besatzungen einer wohl-bestellten Republic seynd“, erlassen. Zudem sei der Streit zwischen Aquileia und Grado „verglichen worden“. Dabei seien dem Candiano, „als dem ersten / die Kirchen / so in der Herrschafft Venedig und Istria gelegen/zugefallen/dem Severo aber/ als Patriarchen von Aquileja, alle die noch übrig andere verblieben seynd“. Einen Krieg zu führen hat er „anzufangen niemalen keine rechtmässige Ursach haben noch finden können“. Er sei, nachdem er „9. Jahr und 21. Tag den Hertzoglichen Stul besessen / in grosser Ruhe entschlaffen“.

1687 glaubte Jacob von Sandrart in seinem Werk Kurtze und vermehrte Beschreibung Von Dem Ursprung / Aufnehmen / Gebiete / und Regierung der Weltberühmten Republick Venedig,[16] „Marcellus Tegalianus Heracleanus“, sei ein „gütiger und verständiger Herr“ gewesen, er habe neun Jahre friedlich geherrscht. Als einzige historische Mitteilung zu seiner Herrschaftszeit vermerkt der Autor: „Zu seiner Zeit ward der Sitz des Patriarchen nach Aquileja versetzet.“

1697 wusste die Cronica Veneta des Pietro Antonio Pacifico gleichfalls, dass „Marcello Tegalliano Doge II.“, bevor er in seinem Heimatort Eraclea starb, „in gouerno noue Anni, e giorni ventiuno“ war.[17] 1736 weiß die Cronaca Veneta, dass „Marcello Tegalliano“ nicht nur genau für die besagte Zeit regiert habe, sondern darüber hinaus, dass er einstimmig gewählt worden sei („con tutte le voci fu eletto Principe“).[18] Diese Regierungsdauer, die bereits im Chronicon Altinate erscheint, wurde von Johann Heinrich Zedler 1739 ebenso übernommen,[19] wie dies Johann Hübner in seinem Werk Kurtze Fragen aus der Politischen Historia bereits 1699 getan hatte. Dieser bevorzugte allerdings als Datum der ersten Dogenwahl das Jahr 709. Er sah das Ende der Herrschaft des ersten Dogen im Jahr 717, das Ende für „Marcellinus Tegalianus“ wieder im Jahr 726.[20]

Historisch-kritische Darstellungen

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Auch Johann Friedrich LeBret konstatiert, „Marcel … war ebenfalls von Heraklea gebürtig“. Er habe versucht, „sorgfältig in die Fußtapen seines Vorgängers zu treten“.[21] „Mit den Langobarden beobachtete er die größte Mäßigung“, weil dies „den gründlichen Nutzen seines Staates mit sich führe“, doch beschäftigte ihn Aquileia „vorzüglich“. Diesen Streit bezeichnet der Autor als „berüchticht“, und „die Päpste flohen allen Umgang mit diesen Patriarchen“. „Endlich brachte es Sergius im Jahre 698 so weit, daß Peter von Aquileja in dieser Stadt eine Synode anstellte, auf welcher sich endlich die schismatischen Bischöfe zur Verdammung der drey Capitel verstunden“ (vgl. Dreikapitelstreit). Es sollte geklärt werden, wer von den beiden Patriarchen den Vorrang haben sollte, zumal der von Grado sich gelegentlich einen Patriarchen von Aquileia genannt habe. „Unter Aquileja stand das ganze mittelländische Venetien, welches damals in den Händen der Langobarden war. Grado hatte Istrien und die Seeprovinz von Grado an bis Capo d'Argine unter seinem Hirtenstabe“ (S. 94 f.). Da zwischen den Klerikern keine Einigung zu erzielen war, wandte man sich an Papst Gregor II. „und dieser entschied den Streit zum Vortheile von Grado“. Einen entsprechenden Brief erhielt Serenus von Aquileia ebenso wie „Aemilian“ von Grado (Emilianus von Grado). Doch der Nachfolger des Serenus, Calixtus, verübte „die größte Gewaltthätigkeit“ gegen Grado, „und wenn Marcellus den Geist und die Macht seiner Nachfolger gehabt, so hätte er diese unruhigen Patriarchen von Aquileja schon damals mit größerem Ernste in die gehörigen Schranken gesetzet“. Aber „der Samen der Zwietracht währete noch über hundert Jahre“. Marcellus konnte, so LeBret, nicht eingreifen, weil er den mächtigen König „Luitprand“ nicht gegen sich „verbittern“ wollte. Auch Gregor II. habe dem „Serenus das Pallium allein aus Achtung für den mächtigen König Luitprand“ erteilt. „Grado selbst, so wie Istrien, stand zu den Zeiten des Marcellus noch unter der Bothmäßigkeit des griechischen Reiches. Wie hätte sich Marcellus in Sachen mischen sollen, die andern Regenten zustunden?“ Diese Umstände, so der Autor, konnten „die Staatskunst“ des Marcellus „rechtfertigen“.

Abbildung aus Serie dei Dogi di Venezia intagliati in rame da Antonio Nani, Venedig 1840; das Phantasieporträt entstand vor 1834

Wie seine Vorgänger stark an historiographische Konventionen gebunden schrieb auch Francesco Zanotto in seinem Werk Il Palazzo ducale di Venezia von 1861,[22] die „cittadini“, die ‚Bürger‘, hätten sich erneut in Eraclea versammelt, um einen Nachfolger für den Dogen „Anafesto“ zu bestimmen. Hinter Marcellus hätten sich demnach die Anhänger versammelt, dem schon der Doge den Auftrag erteilt habe, den Grenzvertrag mit den Langobarden auszuhandeln. Andere Historiker hingegen, so der Autor, würden über die Umstände schweigen, erzählten nur, Marcellus sei von größter Güte gewesen („bontà“), sei ein neuer Numa gewesen, habe den Frieden gewahrt, Gesetze erlassen, Festungswerke an den Flussmündungen errichten, die Inseln durch Boote gegen Piraten verteidigen lassen. Die wichtigste Handlung seiner Herrschaft sei jedoch gewesen, dass er den Patriarchen von Grado, Donato, verteidigt habe. Dieser sei erneut von Sereno, dem Patriarchen von Aquileia, angegriffen worden. Sereno habe im Kampf um seine geistlichen Rechte das Land verwüstet. Nach Zanotto genügte ein Brief an Papst Gregor II., um diesem Tun ein Ende zu setzen, denn der Papst untersagte Sereno Angriffe auf das Donato unterstellte Land. Marcellus, so der Autor, habe 9 Jahre und 20 Tage geherrscht und sei in Eraclea beigesetzt worden.

Einen Höhepunkt der Spekulation nach Jahrhunderten der historischen Phantasie stellt das Werkt August Friedrich Gfrörers († 1861) dar. Er glaubte in seiner 1872 posthum erschienenen Geschichte Venedigs von seiner Gründung bis zum Jahre 1084, nach dem Tod des (angeblich) ersten Dogen: „In die Würde des Verstorbenen trat nunmehr Marcellus, der bisherige Magister militum, als zweiter Doge See-Venetiens ein.“[23] Liutprand habe während dessen Regierungszeit den Plan entworfen, „die Griechen gänzlich aus Italien zu vertreiben.“ Für den Patriarchen von Aquileia, dessen Amtssitz im Langobardenreich lag, habe er erstmals die Verleihung des Palliums erreicht, das seinen Vorgängern ausnahmslos verweigert worden sei. Diese Anerkennung als Patriarch geschah also auf Antreiben des Langobardenkönigs. Auf diesem Wege habe er versucht, das seit langem abgezweigte Patriarchat Grado für sein Reich zu gewinnen „und See-Venedig der lombardischen Krone zu unterwerfen“. Doch nun warnte, auf Initiative der Venezianer, Papst Gregor II. (715–731) den Patriarchen Serenus im Jahr 723, seine Übergriffe gegen Eigentum Grados fortzusetzen. Die Anerkennung von dessen Rechten sei schließlich die Bedingung für die Übereignung des Palliums gewesen. Zudem führt Gfrörer einen zweiten Brief an, in dem er dem Patriarchen von Grado und „Herzog Marcellus“ sowie den übrigen Gemeinden „See-Venetiens“ Schritte Roms gegen Serenus ankündigt. Gfrörer akzeptiert ausdrücklich die Herrschaftszeit des Marcellus mit den Jahren 717 bis 726. Der Passus mit dem Herzogstitel erwies sich im Übrigen später als bloße Interpolation.

Quellennähere Forschung, Auflösung des Mythos Venedig

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Noch Frederic Lanes Venice. A Maritime Republic, das 1972 erschien, sah – vor dem Hintergrund der amerikanischen Nachkriegsgeschichte – Venedig als ein Bollwerk gegen die Tyrannei an. Auch andere Historiker übernahmen damit die vom venezianischen Patriziat ausgestaltete und verbreitete Idealisierung Venedigs und seiner gerechten Herrschaft.

Erst 1975 begann mit einem Aufsatz von Eric Cochrane und Julius Kirshner die Dekonstruktion dieses geschlossenen Zirkels von Deutungsmustern, die bis in die jüngste Vergangenheit wirksam sind.[24] Die Identifikation des zweiten Dogen mit dem Magister militum, der als einziger Marcellus in den verhältnismäßig zeitnahen Quellen genannt wird, kann dementsprechend als ungebrochene Tradition beinahe bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gesehen werden.[25]

Diese Zuweisung des Marcellus zum Dogenamt basiert ausschließlich auf der Tatsache, dass sein Vorgänger als Dux bezeichnet wird. Alvise Loredan glaubt 1981, der Militär sei nach ‚aller Wahrscheinlichkeit‘ vom Exarchen von Ravenna eingesetzt worden.[26] Und auch der Ort der Amtseinsetzung war manchen Historikern bekannt, nämlich die Kathedrale von Oderzo.[27] Für das Lessico universale italiano von 1968 gehörte Marcellus dem Adel von Eraclea an.[28] Für Eugenio Musatti (1897) ließ er im Zusammenhang mit dem Bilderstreit den Papst festsetzen,[29] wie Marcellus’ Vorgänger seiner Auffassung nach (1888) „von der Menge akklamiert“ wurde.[30] Den Zusammenhang zum Bilderstreit und zum Kampf zwischen den Kirchenfürsten von Aquileia und Grado, hinter denen Langobarden und Byzantiner standen, stellte 1872 Giuseppe Cappelletti heraus,[31] wobei der Verfasser des 1871 erschienenen I dogi di Venezia nur lakonisch anmerkte, dass er dort ‚mehr mit der Religion als mit den Waffen‘ die Rechte des Patriarchen von Grado verteidigt habe.[32] Die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge wusste 1864 zu ergänzen, dass Marcello „wol mit kaiserlicher Gutheißung“ eingesetzt worden war.[33]

Viele dieser „Erkenntnisse“, und das durch bloßes Kolportieren und auch in Kunstwerken verarbeitete, per se als sicher geltende Wissen, bündelte bereits Emmanuele Antonio Cicogna, der exzellente Kenner der Quellen Venedigs. Auch er setzte den Magister militum und den gemutmaßten zweiten Dogen in eins, darüber hinaus wusste er, dass dieser Doge an den Flussmündungen in die Lagunen Festungen errichtet habe, dort Boote stationiert worden seien. Zudem habe er mit einigen Booten die Inseln Centenaria und Mossone in der Lagune von Grado erobert, wobei er im Kampf gegen die Langobarden gar verletzt worden sei. Er sei sogar von den „Älteren“ auf eine Stufe mit Numa (Numa Pompilius) gestellt worden, da er die Freiheit Venedigs gegen die Ansprüche der Langobarden verteidigt, aber zugleich zu Menschlichkeit und Sanftmut geneigt habe. Nach neun Jahren Herrschaft sei er schließlich in Eraclea 726 beigesetzt worden.[34]

Samuele Romanin wiederum folgt dem Cronicon Altinate, aus dem er entnimmt, dass es gegen Ende der Regierung des ersten Dogen zu schweren Kämpfen gekommen sei („Orta est contentio inter Venetos – coeperunt fortiter inter se pugnare“), dann zerstörten sie Heraclea.[35] Um die Privilegien seitens der Langobarden nicht gleich wieder einzubüßen, habe sich der Doge, um den Patriarchen von Grado gegen Aquileia zu unterstützen, an den Papst gewandt. Dabei zitiert er aus einem Brief Papst Gregors II., in dem er einem „Marcello duci“ geschrieben haben sollte (S. 108), der sich jedoch später als Fälschung erwies, bzw. als spätere Interpolation.

Noch in den 1930er Jahren hatte Andrea Da Mosto keine Zweifel, dass es sich bei Marcellus, bzw. „Marcello Tegaliano“, um den zweiten Dogen handelte. Auf ihn hätten sich die Familien der Fonicalli oder der Marcello zurückgeführt.[36], auch diese Art der Inkorporation in die Vorfahrenschaft war eine Ursache dafür, dass die Deutungen der Historiographie beinahe unumstößlich blieben. Das handliche Werk erfreute sich erheblichen Zuspruchs und wurde zuletzt 1983 unverändert nachgedruckt.

Umdeutung zum byzantinischen Magister militum (von Istrien, auch Ravenna)

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Doch seit Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die Geschichtsschreibung in einem ersten Schritt von der Vorstellung zu lösen, Marcellus sei als Doge zu betrachten. Heinrich Kretschmayr nahm 1905 dabei die oströmische Titulatur der ältesten Quellen ernst und hielt Marcellus nicht mehr für einen Dux, sondern für einen Magister militum, ohne allerdings die Historizität der Person in Frage zu stellen. Er folgerte, dass der oströmisch-byzantinische Kaiser diesen „Magister militum Marcellus von Istrien auch mit der Verwaltung des Dukats von Venetien betraut“ habe.[37]

Auch für Antonio Battistella kam der Magister militum von Istrien.[38] Kretschmayr hielt einen Brief Papst Gregors II., in dem er sich unter anderen Adressaten an einen „Marcello duci“ wendet, für eine Fälschung, zumindest aber diese Einfügung. Dabei gibt er weitere Fälschungen an, die sogar Bestandteil der Chronica de singulis patriarchis Nove Aquileie wurden, in der sich aber auch nachweislich gefälschte Synodalakten finden. Insgesamt seien diese Fälschungen „kaum anders denn als ein Bestandteil der rechtstheoretischen Konstruktionen des 10./11. Jahrhunderts anzusehen.“[39] Dies war, so auch die etatistische Auffassung des frühen 20. Jahrhunderts, von großer Bedeutung für die venezianische Geschichtsschreibung, denn niemand anderer als ein Doge konnte einen Vertrag mit den Langobarden abgeschlossen haben. Nach der Cambridge Medieval History von 1923 war die „most plausible theory“ diejenige, die zur Annahme führte, dass Marcellus auf kaiserlichen Befehl gehandelt und sich dabei mit dem Dogen assoziiert habe.[40] Nach John Julius Norwich, der seine History of Venice 1981 veröffentlichte, war der angebliche Vertrag nur eine Grenzziehung für eine oströmische Provinz, die später von den Langobarden akzeptiert wurde, und die von einem dux Paulicius, für Norwich (auf den Spuren von Cessi) der Exarch von Ravenna Paulus, und seinem Magister militum Marcellus festgelegt worden war. Für Norwich war dies die „obvious and indeed the only legitimate conclusion to be drawn“. Nur dieser konnte berechtigt sein, eine solche Grenzziehung auf oberster staatlicher Ebene vertraglich zu fixieren. Marcellus' Vorgänger war also weder Doge noch Venezianer, Marcellus war ebenfalls nie Doge.[41]

Die Historizität der beiden ersten Dogen wurde von Geschichtswissenschaftlern schließlich gänzlich in Frage gestellt, allen voran 1926 von Roberto Cessi.[42] Er war derjenige, der die Gleichsetzung des ersten Dogen mit dem Exarchen vorgeschlagen hatte. Für ihn begann die Reihe der Dogen daher erst mit dem der Legende nach dritten Dogen, mit Orso Ipato, denn die Überlieferung zum zweiten Dogen basierte auf denselben unzuverlässigen oder falsch gedeuteten Quellen wie die zum ersten. Für Cessi war die Wahl eines Dogen unter dem seiner Ansicht nach dafür zu strikten Regime Konstantinopels nicht denkbar. Cessi sah in Marcellus einen möglichen Vertreter der byzantinischen Herrschaft. Dies dürfte eine der Interpretationen gewesen sein, die man in Venedig Jahrhunderte vermeiden wollte.

Carlo Guido Mor, Joachim Werner, Amelio Tagliaferri, 1962

Carlo Guido Mor stellte als erster die These auf, Paulicius sei womöglich ein langobardischer Dux von Treviso gewesen, Marcellus sein venezianisches Gegenüber,[43] eine Annahme, die Stefano Gasparri akzeptierte. Gasparri widersprach allerdings dabei 2011 Cessis Deutung. Er stimmt ihm zwar insofern zu, als er eine Existenz des Paulicius gleichfalls für unwahrscheinlich hält, aber die Gleichsetzung mit dem Exarchen scheint ihm doch Ausdruck des „Isolationismus“, der Betonung einer schon extrem frühen Sonderrolle Venedigs zu sein, bei der die gesamte Geschichte von derjenigen der Nachbarn abwich. Roberto Cessi habe, als Exponent dieses fortbestehenden Isolationismus in der lokalen Geschichtsschreibung, der Betonung einer von Anfang an bestehenden Sonderrolle Venedigs, praktisch jeden Einfluss vom Festland, sei es durch Langobarden, sei es durch Franken, zurückgewiesen. Gasparri glaubt zudem, dass die pacta mit den Langobarden gleichfalls eine Erfindung des Johannes Diaconus seien. Die Nennung des Langobardenkönigs Liutprand habe nur der Datierung gedient, der Vertrag sei keineswegs mit dem König selbst abgeschlossen worden, sondern er gehöre in eine Reihe anderer Verträge der langobardischen Herrscher unterhalb der Königsebene. Es habe dementsprechend keinen Dogen Paulicius gegeben: „Paulicio non fu il primo doge“ (S. 35). Paulicius könne, wie es schon Gian Piero Bognetti vorgeschlagen hatte,[44] der Duca von Treviso gewesen sein, oder einer seiner Nachbarn, möglicherweise ein Langobarde (S. 38).[45] Damit wurde aus dem Pactum Lotharii eine bloße Abstimmung der Grenzen und von Nutzungen der betroffenen Gebiete zwischen zwei aneinandergrenzenden Territorien, nämlich des ursprünglich langobardischen Dukates Treviso und des Exarchats Ravenna, wobei letzteres durch Marcellus vertreten wurde.

Die Vorstellung des Johannes Diaconus, in der Figur der ersten beiden Dogen erweise sich schon der im Kern heranwachsende venezianische Staat, nämlich dadurch, dass er in voller Souveränität einen Vertrag mit der mächtigen Festlandsmacht schloss, erweist sich als Rückprojektion, wenn nicht als Staatspropaganda, wie schon Kretschmayr konstatiert hatte. Marco Pozza stellt zudem fest, dass die beiden Namen Paulicius und Marcellus dem Chronisten Johannes Diaconus aus mehreren Dokumenten bekannt waren. Diese waren neben dem besagten Pactum Lotharii, dessen Bestätigung durch Otto II. von 983 ebenso bekannt gewesen sein dürfte, wie die Namen aus einem praeceptum Ottos III. von 992, einem von 995 und dem Text eines 996 abgehaltenen Placitums in Verona von 996 hervorgingen. So könne die Erfindung der beiden Dogen auf Johannes zurückgeführt werden, dessen Geschichtsschreibung durch die Chronisten des 14. Jahrhunderts, allen voran Andrea Dandolo, dann verfestigt worden sei.

Die These Mors versuchte Anna Maria Pazienza 2017 auch chronikalisch herzuleiten.[46] Dabei spielt der Autor der Chronica de singulis patriarchis Nove Aquileie eine entscheidende Rolle, dem eine Reihe von Dokumenten aus dem Patriarchenarchiv noch vorgelegen haben müsse. Unter diesen befand sich etwa eine Art Brief, den Patriarch Fortunatus II. an seine Kleriker in Grado geschickt hatte, möglicherweise aus dem byzantinischen Exil, und der einem Testament ähnelt. Fortunatus listet darin seine Verdienste um die Gradenser Kirche auf, und er gibt seiner Hoffnung auf eine baldige Rückkehr Ausdruck. Seit Giordano Brunettin (1991) wird diese Quelle eher als Exzerpt einer Gerichtsakte aufgefasst, in der der Patriarch versuchte, seine Verdienste in den Vordergrund zu rücken, während er beschuldigt wurde, die Gradeser Kirche bestohlen zu haben.[47] Pazienza führt angesichts dieses weit reichenden Zugriffs auf heute meist verlorene Dokumente aus, wie der Chronist die Wahl zum ersten Dogen schildert. Er setzt sie, wie schon erwähnt, zu Zeiten des Kaisers Anastasius und des Langobardenkönigs Liutprand (also um 713) an, und führt aus, wie jener Paulicius einen Vertrag schloss und sich Cittanova vom Langobardenkönig zusichern ließ. Dies erinnere, so Pazienza, an den Text des Pactum Lotharii, worin der Kaiser den Grenzverlauf anerkennt, den einst Liutprand dem Paulicius und dem Magister militum Marcellus zugesichert habe. Für Pazienza handelte es sich also nicht um einen langobardisch-venezianischen Vertrag auf höchster Ebene, sondern Liutprand garantierte nur einen Vertrag zwischen Paulicius und Marcellus (der zugleich die Grenze von der Piave Maggiore zur Piave Secca verschob). Für die Autorin wurde damit die Grenze zwischen dem Langobardenreich und der byzantinischen Provinz Venedig festgelegt.

Für sie ist Paulicius also ebenfalls nicht der erste Doge Venedigs, wie es die venezianische historiographische Tradition seit einem Jahrtausend behauptet, sondern der Dux von Treviso. Die byzantinische Provinz hingegen wurde von jenem Marcellus regiert, einem Magister militum. „No peace agreement was ever concluded between King Liutprand and Venice, nor was Paulicio ever the duke of the lagoon city, as the chronicler states, misinterpreting – if deliberate or not is difficult to say – the evidence at his disposal: the pactum Lotharii or its following renewals“ (S. 42). Damit wäre ein Gründungsmythos Venedigs, abgeleitet aus dem Pactum Lotharii, eine bloße Rückprojektion des Verfassers einer der ältesten Chroniken Venedigs. Der angebliche erste Dux von Venedig wird bei Pazienza zum Dux von Treviso, einem Langobarden. Der zweite Doge wird zu einem Stellvertreter des öströmisch-byzantinischen Reiches.

Erzählende Quellen

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  • Luigi Andrea Berto (Hrsg.): Giovanni Diacono, Istoria Veneticorum (=Fonti per la Storia dell’Italia medievale. Storici italiani dal Cinquecento al Millecinquecento ad uso delle scuole, 2), Zanichelli, Bologna 1999 (auf Berto basierende Textedition im Archivio della Latinità Italiana del Medioevo (ALIM) der Universität Siena).
  • La cronaca veneziana del diacono Giovanni, in: Giovanni Monticolo (Hrsg.): Cronache veneziane antichissime (= Fonti per la storia d'Italia [Medio Evo], IX), Rom 1890, S. 94, 177 (Digitalisat, PDF).
  • Roberto Cessi (Hrsg.): Origo civitatum Italiae seu Venetiarum (Chronicon Altinate et Chronicon Gradense), Rom 1933, S. 28, 115.
  • Ester Pastorello (Hrsg.): Andrea Dandolo, Chronica per extensum descripta aa. 460-1280 d.C., (=Rerum Italicarum Scriptores XII,1), Nicola Zanichelli, Bologna 1938, S. 108–112 (Digitalisat, ab S. 108 f.).
  • Roberto Cessi, Fanny Bennato: Venetiarum historia vulgo Petro Iustiniano Iustiniani filio adiudicata, Venedig 1964, S. 1, 20, 41, 97.
  • Alberto Limentani (Hrsg.): Martin da Canal. Les estoires de Venise, Florenz 1972, S. 9 f.

Rechtsetzende Quellen, Briefe

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  • Roberto Cessi (Hrsg.): Documenti relativi alla storia di Venezia anteriore al Mille, Bd. I: Secoli V-IX, Venedig 1991 dar, hier: n. 18 (Brief Papst Gregors II. an die Bischöfe von Venezien und Istrien), S. 28–30 (Digitalisat).
  • Theodor von Sickel (Hrsg.): Ottonis II et III Diplomata, Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae, Teil II, Hannover 1893, n. 300, S. 352–356, hier: S. 355 (Digitalisat); n. 100, S. 511 f., hier: S. 512 (Digitalisat); n. 165, S. 577 f., hier: S. 578 (Digitalisat).
  • Alfred Boretius, Victor Krause (Hrsg.): Capitularia regum Francorum, Monumenta Germaniae Historica, Legum sectio, Bd. II, Hannover 1897, S. 135, (Digitalisat), 141 (Digitalisat).
  • Marco Pozza: Tegalliano, Marcello, detto Tegalliano, in: Dizionario Biografico degli Italiani 95 (2019) 286–288.
  • Giorgio Ravegnani: Il doge di Venezia, Bologna 2013, S. 16.
  • Stefano Gasparri: Venezia fra i secoli VIII e IX. Una riflessione sulle fonti, in: Gino Benzoni, Marino Berengo, Gherardo Ortalli, Giovanni Scarabello (Hrsg.): Studi veneti offerti a Gaetano Cozzi, Vicenza 1992, S. 3–18. (rmoa.unina.it (PDF; 188 kB))
  • Stefano Gasparri: Dall’età longobarda al secolo X, in: Daniela Rando, Gian Maria Varanini (Hrsg.): Storia di Treviso, Bd. II: Il Medioevo, Venedig 1991, S. 16 f., 36.
  • Stefano Gasparri: Venezia fra i secoli VIII e IX. Una riflessione sulle fonti, in: Studi veneti offerti a Gaetano Cozzi, Venedig 1992, S. 6 f.
  • Girolamo Arnaldi: Le origini dell’identità lagunare, in: Storia di Venezia, Bd. 1: Origini. Età ducale, Rom 1992, S. 431.
  • Antonio Carile, Giorgio Fedalto: Le origini di Venezia, Bologna 1978, ab S. 226.
  • Roberto Cessi: Le origini del ducato veneziano, Neapel 1951, S. 150–162, 164–170.
  • Andrea Da Mosto: I dogi di Venezia con particolare riguardo alle loro tombe, Venedig 1939, S. 33 (Beisetzung in Eraclea 726, Zugehörigkeit zur Familie Fonicalli oder zu den Marcello, lt. Cessi „solo in qualità di maestro dei militi“). (Digitalisat)
  • Andrea Da Mosto: I dogi di Venezia nella vita pubblica e privata, ND Mailand 1960, S. 4 f.
  • Giuseppe Maranini: La costituzione di Venezia, Bd. I: Dalle origini alla serrata del Maggior Consiglio, Venedig 1927, S. 30 f.
  • Roberto Cessi: Paulucius dux, in: Archivio veneto-tridentino X (1926) 158–179, hier: 166 f., 171–176.
Commons: Marcello Tegalliano – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  1. Es wurden also die Wappen der sehr viel späteren Nachfahren dieser Dogen, vor allem seit dem 17. Jahrhundert, auf die angeblichen oder tatsächlichen Mitglieder der (angeblich) seit 697 in Venedig herrschenden Familien zurückprojiziert: „Il presupposto di continuità genealogica su cui si basava la trasmissione del potere in area veneziana ha portato come conseguenza la già accennata attribuzione ai dogi più antichi di stemmi coerenti con quelli realmente usati dai loro discendenti“ (Maurizio Carlo Alberto Gorra: Sugli stemmi di alcune famiglie di Dogi prearaldici, in: Notiziario dell'associazione nobiliare regionale veneta. Rivista di studi storici, n. s. 8 (2016) 35–68, hier: S. 41).
  2. Lucrezia Marinella: L’Enrico ovvero Bisanzio acquistato, Venedig 1635 (Google Books).
  3. Marc-Antoine Laugier: Storia della Repubblica di Venezia Dalla sua Fondazione sino al presente Del Sig. Abate Laugier Tradotta dal Francese, Carlo Palese e Gasparo Storti, Venedig 1767, S. 175, Anm. 1.
  4. Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig, 3 Bde., Bd. 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos, Gotha 1905, Nachdruck: Aalen 1964, 1989, S. 44.
  5. „Hoc tempore Lotharius imperator anno sui primo, pactum, initum inter Venetos et vicinos subiectos imperii super jure redendo et solutione datiorum, requirente duce, per quinquenium confirmavit terras que ducatus distinsit a terris Ytalici regni; et terminationem factam inter Paulucium ducem et Marcelum magistrum militum de finibus Civitatis Nove sub Liutprando rege et ab Astulffo confinatam comprobavit.“
  6. Zitiert nach Luigi Andrea Berto: Il vocabolario politico e sociale della “Istoria Veneticorum” di Giovanni Diacono, Il poligrafo, 2001, S. 239.
  7. Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig, 3 Bde., Bd. 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos, Gotha 1905, S. 44.
  8. „Marcellus dux ad predicte dignitatis solium, universis provincialibus congregatia, in eadem civitate promotus fuit, discursis ab Incarnatione predicta annis septingentis quatuordecim. Hic dux, pacis amator, cum subditis et vicinis benevole pertransivit; demum cum ducatum gubernasset annis septem, mensibus tribus, humane vite debitum persolvit, ibique sepultus fuit.“ (Ester Pastorello (Hrsg.): Andreae Danduli Ducis Venetiarum Chronica per extensum descripta aa. 46-1280, Nicola Zanichelli, Bologna 1938, S. 354).
  9. Roberto Pesce (Hrsg.): Cronica di Venexia detta di Enrico Dandolo. Origini - 1362, Centro di Studi Medievali e Rinascimentali «Emmanuele Antonio Cicogna», Venedig 2010, S. 15.
  10. Pietro Marcello: Vite de'prencipi di Vinegia in der Übersetzung von Lodovico Domenichi, Marcolini, 1558, S. 2: „Ma tuttavia, non havendo egli havuta niuna occasione di far guerra, & perciò, essendo passato tutto il suo governo in pace, morì, essendo stato Doge nove anni“ (Digitalisat).
  11. Șerban V. Marin (Hrsg.): Gian Giacomo Caroldo. Istorii Veneţiene, Bd. I: De la originile Cetăţii la moartea dogelui Giacopo Tiepolo (1249), Arhivele Naţionale ale României, Bukarest 2008, S. 47 (online).
  12. „il quale conservò la Chiesa sua nel culto Divino, immaculata da gli errori et heresie, adherendosi alla Romana Chiesa“ (Șerban V. Marin (Hrsg.): Gian Giacomo Caroldo. Istorii Veneţiene, Bd. I: De la originile Cetăţii la moartea dogelui Giacopo Tiepolo (1249), Arhivele Naţionale ale României, Bukarest 2008, S. 47).
  13. Francesco Sansovino: Delle cose notabili della città di Venetia. Libri II, Lucio Spineda, Venedig 1602, S. 35r-v, bzw. Venedig 1561, S. 33.
  14. Heinrich Kellner: Chronica das ist Warhaffte eigentliche vnd kurtze Beschreibung, aller Hertzogen zu Venedig Leben Sigmund Feyerabends, Frankfurt am Main 1574, Blatt 1v (Digitalisat, S. 1v).
  15. Alessandro Maria Vianoli: Der Venetianischen Hertzogen Leben / Regierung, und Absterben / Von dem Erstem Paulutio Anafesto an / biss auf den itzt-regierenden Marcum Antonium Justiniani, Nürnberg 1686, S. 33–35 (Digitalisat).
  16. Jacob von Sandrart: Kurtze und vermehrte Beschreibung Von Dem Ursprung / Aufnehmen / Gebiete / und Regierung der Weltberühmten Republick Venedig, Nürnberg 1687, S. 12 (Digitalisat, S. 12).
  17. Pietro Antonio Pacifico: Cronica Veneta, Domenico Lovisa, Venedig 1697, S. 34.
  18. Cronaca Veneta, Venedig 1736, S. 22.
  19. Marcellus Tegalianus oder Tagilanus. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Band 19, Leipzig 1739, Sp. 1207.
  20. Johann Hübner: Kurtze Fragen aus der Politischen Historia: den Lehrenden und Lernenden zur Erleichterung aufgesetzet. Biß auff den Friedens-Schluß zu Ryswyck continuiret und Mit einer nützlichen Einleitung vor Die Anfänger und Vollständigem Register versehen, dritter Theil, Johann Friedrich Gleditsch, 1699, S. 575–577.
  21. Johann Friedrich LeBret: Staatsgeschichte der Republik Venedig, von ihrem Ursprunge bis auf unsere Zeiten, in welcher zwar der Text des Herrn Abtes L'Augier zum Grunde geleget, seine Fehler aber verbessert, die Begebenheiten bestimmter und aus echten Quellen vorgetragen, und nach einer richtigen Zeitordnung geordnet, zugleich neue Zusätze, von dem Geiste der venetianischen Gesetze, und weltlichen und kirchlichen Angelegenheiten, von der innern Staatsverfassung, ihren systematischen Veränderungen und der Entwickelung der aristokratischen Regierung von einem Jahrhunderte zum andern beygefügt werden, 4 Bde., Johann Friedrich Hartknoch, Riga und Leipzig 1769–1777, Bd. 1, Leipzig und Riga 1769, S. 94–96 (Digitalisat).
  22. Francesco Zanotto: Il Palazzo ducale di Venezia, Bd. 4, Venedig 1861, S. 7 f. (Digitalisat).
  23. August Friedrich Gfrörer: Geschichte Venedigs von seiner Gründung bis zum Jahre 1084. Aus seinem Nachlasse herausgegeben, ergänzt und fortgesetzt von Dr. J. B. Weiß, Graz 1872, S. 49 f., hier: S. 49 (Digitalisat).
  24. Eric Cochrane, Julius Kirshner: Deconstructing Lane’s Venice, in: The Journal of Modern History 47 (1975) 321–334.
  25. So verfährt etwa Claudio Rendina: I dogi. Storia e segreti, Newton Compton, 1984, S. 23, der zwar einräumt, dass man „quasi“ nichts über den zweiten Dogen wisse, doch müsse es sich um jenen Magister militum handeln, der den Vertrag mit Liutprand unterzeichnet hat („Dovrebbe essere comunque lo stesso magister militum che firmò insieme a Paoluccio il trattato con Liutprando“).
  26. Alvise Loredan: I Dandolo, Dall'Oglio, 1981, S. 62.
  27. Dies führt etwa Eno Bellis: Piccola storia di Oderzo romana, La tipografica, 1968, S. 172 an.
  28. Umberto Bosco: Lessico universale italiano, Bd. 15, 1968, S. 506.
  29. Eugenio Musatti: La Storia politica di Venezia secondo le ultime ricerche, Gallina, 1897, S. 13 („che provocò l’efficace interposizione del Sommo Pontefice per far cessare i dissidi religiosi“).
  30. Eugenio Musatti: Storia della promissione ducale, Padua 1888 (Nachdruck Venedig 1983), S. 8 („acclamato dalla moltitudine“).
  31. Giuseppe Cappelletti: Breve corso di storia di Venezia condotta sino ai nostri giorni a facile istruzione popolare, Grimaldo, 1872, S. 20 f.
  32. I dogi di Venezia, Venedig 1871, S. 5.
  33. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, Erste Section, Achtundsechzigster Theil, Brockhaus, Leipzig 1864, S. 450.
  34. Emmanuele Antonio Cicogna: Storia dei Dogi di Venezia, Bd. 1. Venedig 1867, o. S. (Digitalisat).
  35. Samuele Romanin: Storia documentata di Venezia, Bd. 1, Pietro Naratovich, Venedig 1853, S. 107, Anm. 3.
  36. Andrea Da Mosto: I dogi di Venezia nella vita pubblica e privata, Nachdruck G. Martello, 1983, S. 2.
  37. Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig, 3 Bde., Bd. 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos, Gotha 1905, S. 44.
  38. Antonio Battistella: La Repubblica di Venezia ne'suoi undici secolo di storia, Venedig 1921, S. 33.
  39. Heinrich Kretschmayr: Geschichte von Venedig, 3 Bde., Bd. 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos, Gotha 1905, S. 413.
  40. The Cambridge Medieval History, Bd. 4, Cambridge University Press, 1923, S. 389.
  41. John Julius Norwich: History of Venice, ND Penguin 2011, S. 14.
  42. Roberto Cessi: Paulicius dux, in: Archivio veneto-tridentino 10 (1926) 158–179.
  43. Carlo Guido Mor: Sulla «terminatio» per Cittanova-Eracliana, in: Studi medievali, s. 3, X (1969), 2, S. 465 f., 476, 479–481.
  44. Stefano Gasparri meint Piero Bognetti: Natura, politica e religione nelle origini di Venezia, in: Le origini di Venezia, Florenz 1964, S. 15 und 32.
  45. Stefano Gasparri: Anno 713. La leggenda di Paulicio e le origini di Venezia, in: Uwe Israel (Hrsg.): Venezia. I giorni della storia, Venedig 2011, S. 27–45.
  46. Anna Maria Pazienza: Archival Documents as Narrative: The Sources of the Istoria Veneticorum and the Plea of Rižana, in: Sauro Gelichi, Stefano Gasparri (Hrsg.): Venice and Its Neighbors from the 8th to 11th Century. Through Renovation and Continuity, Brill, Leiden und Boston 2018, S. 27–50.
  47. Giordano Brunettin: Il cosiddetto testamento del patriarca Fortunato ii di Grado (825), in: Memorie storiche forogiuliesi 71 (1991) 51–123.
VorgängerAmtNachfolger
PauliciusDoge von Venedig
717–726
Orso Ipato