Vektorielles Maß

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Ein vektorielles Maß ist ein Begriff aus der Maßtheorie. Er stellt eine Verallgemeinerung des Maßbegriffes dar: Das Maß ist nicht mehr reellwertig, sondern vektorwertig. Vektormaße werden unter anderem in der Funktionalanalysis benutzt (Spektralmaß).

Vektorielle Maße sind endlich- oder abzählbar additive Mengenfunktionen mit Werten in einem Banachraum. Genauer seien ein Messraum (also eine nichtleere Menge und eine σ-Algebra) und ein Banachraum. Eine -wertige Mengenfunktion auf ist eine Funktion . Man nennt ein endlich-additives Maß, falls

und

für endlich viele, paarweise disjunkte Mengen aus gilt. Man spricht von einem abzählbar-additiven Maß, falls

und

für jede Folge paarweise disjunkter Mengen , wobei die Konvergenz der Summe auf der rechten Seite im Banachraum zu verstehen ist. Da das für jede Folge paarweise disjunkter Mengen aus gelten soll und da eine beliebige Umordnung einer solchen Folge deren Vereinigung und damit die linke Seite obiger Formel nicht ändert, muss auch die Summe auf der rechten Seite bei Umordnungen unverändert bleiben; das heißt, es liegt automatisch unbedingte Konvergenz vor.

Ist von einem Maß die Rede, so meint man damit ein abzählbar-additives Maß. Es sei die Menge aller -wertigen Maße auf dem Messraum . Sind zwei solche Maße und ist ein Skalar, so sind durch

Maße und aus gegeben. Die so definierten Operationen machen zu einem Vektorraum.

Ist , so erhält man den Raum der skalaren Maße , der mit der Totalvariationsnorm zu einem Banachraum wird. Der Versuch, dies auf Räume vektorieller Maße zu übertragen, stößt auf ein Hindernis. Die verallgemeinerte Totalvariation ist nicht für alle Maße automatisch endlich, was aber durch den Begriff der Semivariation geheilt werden kann.

Analog zu den signierten Maßen kann man ebenfalls die totale Variation eines vektoriellen Maßes einführen: Es sei eine -wertige Mengenfunktion. Die totale Variation von ist die Funktion

die durch

erklärt ist. Hierbei sind eine Menge aus und eine messbare Zerlegung von eine Partition von , die aus Mengen aus besteht. Man kann zeigen, dass die totale Variation von ein endlich bzw. abzählbar additives, positives Maß ist, wenn endlich bzw. abzählbar additiv ist. Ein vektorielles Maß ist von beschränkter Variation, wenn seine totale Variation endlich ist, das heißt, wenn . Manche Autoren, z. B. Serge Lang[1], verstehen unter vektoriellen Maßen nur solche von beschränkter Variation. Wir folgen hier der Terminologie von Diestel-Uhl[2], in der vektorielle Maße nicht von beschränkter Variation sein müssen. Es gilt folgender Satz[3]:

  • Ist der Banachraum endlich-dimensional, so ist die totale Variation von ein endliches Maß, das heißt ist von beschränkter Variation.

In unendlich-dimensionalen Banachräumen ist ein vektorielles Maß nicht notwendig von beschränkter Variation. Als Beispiel sei die Halbgerade mit den Borelmengen, sei der Folgenraum . Für sei , wobei das Lebesguemaß auf sei. Dann ist ein vektorielles Maß mit Werten in , das nicht von beschränkter Variation ist.[4]

Der Raum der abzählbar additiven Maße beschränkter Variation mit Werten im Banachraum ist ein Untervektorraum von . Mit der totalen Variation als Norm wird zu einem Banachraum.

Die hier vorgestellte Semivariation eines vektoriellen Maßes behebt den Nachteil der totalen Variation, nicht immer endlich zu sein. Dies erkauft man sich allerdings damit, nicht immer ein abzählbar additives Maß zu erhalten. Es seien wieder ein Messraum, ein Banachraum und ein vektorielles Maß. Leicht überlegt man sich, dass für jedes aus dem Dualraum ein skalares Maß auf ist. Wir erhalten auf diese Weise einen linearen Operator

in den Banachraum der skalaren Maße auf . Mit Hilfe des Satzes vom abgeschlossenen Graphen zeigt man, dass sogar beschränkt ist. Damit definiert man eine Abbildung durch

und nennt die Semivariation von . Wegen

ist diese Größe zwar stets endlich, allerdings ist die Semivariation im Allgemeinen nur eine monotone, abzählbar subadditive Mengenfunktion. wird mit der Norm

ein Banachraum.[5]

  • Jedes komplexe bzw. signierte Maß ist ein vektorielles Maß.
  • Jedes Spektralmaß definiert ein endlich additives vektorielles Maß.
  • Es seien das Einheitsintervall und die -Algebra der Lebesgue-messbaren Mengen von . Für in bezeichne die charakteristische Funktion von . Je nach Wahl des Wertebereichs werden hierdurch unterschiedliche vektorielle Maße definiert:
    • Die Funktion ist ein endlich additives vektorielles Maß, das nicht abzählbar additiv und nicht von beschränkter Variation ist.
    • Die Funktion ist ein abzählbar additives vektorielles Maß.
  • Es sei und sei der Folgenraum der Nullfolgen. Wähle ein festes und definiere das vektorielle Maß durch
,
wobei die Folge sei, die an der n-ten Stelle eine 1 und sonst nur Nullen hat. Für die Totalvariation gilt
und für die Semivariation erhält man
.

Das Integral nach einem vektoriellen Maß

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Es seien wie oben ein Messraum, ein Banachraum und ein vektorielles Maß. Weiter sei der Banachraum der beschränkten, messbaren Funktionen (oder ) mit der Supremumsnorm . Wir wollen das Integral

für Funktionen erklären. Jedes definiert ein stetiges, lineares Funktional

.

Beachte, dass in dieser Definition nur das Integral bzgl. eines skalaren Maßes vorkommt, das an dieser Stelle als bekannt vorausgesetzt ist.

Wir erinnern an den oben eingeführten Operator

.

und betrachten den dazu adjungierten Operator

.

Diesen können wir also auf anwenden und definieren so

.

Schließlich überlegt man sich, dass das so definierte Integral sogar in liegt, wobei man wie üblich mittels der kanonischen Einbettung in den Bidualraum als Untervektorraum von auffasst. Da die einfachen Funktionen dicht in liegen, genügt es für eine charakteristische Funktion zu zeigen, dass obiges Integral tatsächlich in liegt. Da die dazu erforderliche Rechnung obige Definitionen verdeutlicht, soll sie als Beispiel eines solchen Integrals ausgeführt werden. Da obige Definition ein Element aus ist, können wir sie auf ein beliebiges anwenden und erhalten

.

Da beliebig war, folgt

und das ist tatsächlich ein Element aus . Also ist das oben definierte Integral für alle beschränkten, messbaren Funktionen ein Element aus . Diese Rechnung zeigt darüber hinaus, dass man für einfache Funktionen die erwartete Formel

erhält. Das Integral über eine messbare Teilmenge wird dann wie üblich durch

definiert. Es gilt folgende Abschätzung:

für alle .[6]

Verallgemeinerte maßtheoretische Sätze

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Satz von Jegorow

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der klassische Satz von Jegorow überträgt sich wie folgt auf vektorielle Maße:[7]

  • Es seien ein Messraum, ein Banachraum und ein vektorielles Maß. Es sei weiter eine Folge -messbarer Funktionen, die punktweise gegen eine Funktion konvergiert. Dann gibt es zu jedem eine messbare Menge mit , so dass die Folge auf gleichmäßig gegen konvergiert.

Satz von der majorisierten Konvergenz

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der klassische Satz von der majorisierten Konvergenz gilt in folgender Form auch für vektorielle Maße:[8]

  • Es seien ein Messraum, ein Banachraum und ein vektorielles Maß. Es sei weiter eine gleichmäßig beschränkte Folge -messbarer Funktionen, die punktweise gegen eine Funktion konvergiert. Dann konvergiert
.

Satz von Radon-Nikodým

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Der klassische Satz von Radon-Nikodým gilt nicht in voller Allgemeinheit für vektorielle Maße. Dazu sei ein Messraum, ein positives Maß auf , ein Banachraum und . Dann ist durch

ein vektorielles Maß

mit

definiert.[9] Beachte, dass wir hier mittels des Bochner-Integrals eine Banachraum-wertige Funktion nach einem skalaren Maß integrieren. Im Gegensatz dazu ist das oben eingeführte Integral für vektorielle Maße für skalarwertige Funktionen erklärt.

Ein vektorielles Maß heißt -stetig oder absolut stetig gegen , falls aus und stets folgt. Leicht zeigt man, dass das oben definierte absolut stetig gegen ist. Sei

.

Dann ist ein abgeschlossener Unterraum von . Der Satz von Radon-Nikodým befasst sich mit der Frage, ob jedes -stetige vektorielle Maß bereits von der Form ist. In Verallgemeinerung des klassischen Satzes von Radon-Nikodým erhält man: [10]

  • Sei ein σ-endliches, positives Maß auf dem Messraum , sei ein Hilbertraum. Dann ist die Abbildung , ein isometrischer Isomorphismus. Insbesondere ist jedes -stetige vektorielle Maß aus von der Form , wobei -eindeutig bestimmt ist.

Neben Hilberträumen gibt es auch andere Banachräume, die eine analoge Eigenschaft erfüllen, diese nennt man Räume mit Radon-Nikodym-Eigenschaft.

Eine Möglichkeit, aus skalarwertigen Funktionen solche mit Werten in einem Banachraum zu konstruieren, ist die Verwendung von Tensorprodukten. Es liegt daher nahe, Tensorprodukte zu betrachten. Jedes

ist mit der Definition

ein vektorielles Maß. Die verschiedenen Möglichkeiten, solche Tensorprodukte zu normieren, führen zu der oben eingeführten Totalvariationen bzw. Semivariation.

Projektives Tensorprodukt

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Norm des projektiven Tensorprodukts fällt mit der Totalvariation zusammen, das heißt für jedes ist die Totalvariation des Maßes. Insbesondere sind all diese Maße von beschränkter Totalvariation und die Vervollständigung ist isometrisch isomorph zu einem Untervektorraum von . Dies ist im Allgemeinen ein echter Untervektorraum, genauer handelt es sich um den Untervektorraum der vektoriellen Maße mit Radon-Nikodym-Eigenschaft.[11]

Injektives Tensorprodukt

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Die Norm des injektiven Tensorprodukts fällt mit der Semivariation zusammen, das heißt für jedes ist die Semivariation des Maßes. Die Vervollständigung ist isometrisch isomorph zu einem Untervektorraum von . Dies ist im Allgemeinen ein echter Untervektorraum, genauer handelt es sich um den Untervektorraum der vektoriellen Maße, deren Bildmenge relativ kompakt ist.[12]

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Serge Lang: Real Analysis (= Addison-Wesley Series in Mathematics). Addison-Wesley, Reading MA u. a. 1969, ISBN 0-201-04179-0.
  2. J. Diestel, J. J. Uhl Jr.: Vector measures. 1977.
  3. Serge Lang: Real Analysis (= Addison-Wesley Series in Mathematics). Addison-Wesley, Reading MA u. a. 1969, ISBN 0-201-04179-0, XI, 4.5. Theorem 8.
  4. Serge Lang: Real Analysis (= Addison-Wesley Series in Mathematics). Addison-Wesley, Reading MA u. a. 1969, ISBN 0-201-04179-0, XI, 4.5.
  5. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Satz 5.3
  6. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Seite 100 und Satz 5.10
  7. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Satz 5.11
  8. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Satz 5.12
  9. Serge Lang: Real Analysis (= Addison-Wesley Series in Mathematics). Addison-Wesley, Reading MA u. a. 1969, ISBN 0-201-04179-0, XI, 4.5, Theorem 9.
  10. Serge Lang: Real Analysis (= Addison-Wesley Series in Mathematics). Addison-Wesley, Reading MA u. a. 1969, ISBN 0-201-04179-0, XI, 4.5, Korollar 2 zu Theorem 10.
  11. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Theorem 5.22
  12. Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1, Satz 5.18
  • Joseph Diestel, John J. Uhl Jr.: Vector measures (= Mathematical Surveys. Bd. 15). American Mathematical Society, Providence RI 1977, ISBN 0-821-81515-6.
  • Serge Lang: Real and Functional Analysis (= Graduate Texts in Mathematics. Bd. 142). 3rd edition. Springer, New York NY u. a. 1993, ISBN 0-387-94001-4.
  • Tsoy-Wo Ma: Banach-Hilbert Spaces, Vector Measures and Group Representations. World Scientific Publishing Company, River Edge NJ u. a. 2002, ISBN 981-238-038-8.
  • Raymond A. Ryan: Introduction to Tensor Products of Banach Spaces, Springer-Verlag 2002, ISBN 1-85233-437-1